In meinem Vorgarten steht die größte Pyramide des Planeten.
Judith gluckste bei dem Gedanken. Zu Zeiten waren die Pyramiden Wallfahrtsorte außerhalb von Gizeh gewesen, mittlerweile hatte das Taxi, welches sie zur Pyramids Road gebracht hatte, die Stadt nicht verlassen müssen. Gizeh hatte sich seine Pyramiden einverleibt. Und die Horde von Touristenjägern und Souvenirhehlern musste nicht mehr zur Arbeit pendeln. Einige Kletten wurden bereits aufmerksam, als Judith sich dem Eingang des Freilichtmuseums näherte. Die Händler schauten verunsichert, so früh schon auf Kundschaft zu stoßen. Judith lächelte schuldbewusst, sich nicht den gewerkschaftlich festgeschriebenen Zeiten zu unterwerfen, um angerempelt, genötigt und beschachert zu werden. Sie zog sich den Mantel enger um die Schultern.
Ein Pyramidenpolizist in schmucker touristenfreundlicher Uniform schlenderte gelangweilt auf sie zu: "Kein Einlass vor sieben", blökte er in schmutzigem Ägyptisch, bereit, den Satz in drei weiteren Sprachen herunterzuleiern. Vermutlich hielt er sie für eine Brasilianerin.
Sie zückte einen derben arabischen Kraftausdruck und antwortete: "Kennen sie Jacob Mendel? Wir sind verabredet." Den Namen, Englisch ausgesprochen, hatte sie gebrüllt, um weithin gehört zu werden.
"Sie gehört zu mir!", hallte es im besten Texanisch aus dem Kartenhäuschen. Ein sonnengebräunter Modellathlet trat aus dem Schatten und eilte herbei.
"Mr. Mendel?" Sie zupfte ihre Bluse zurecht. Blonde Juden hatten es ihr angetan.
Beschwörend hob er die Hände. "Nicht diesen Namen! In Arabien trage ich den Namen meiner Frau: Juliani. Juden sind hier ungern gesehen, trotz aller Friedensverträge." Er schüttelte ihr die Hand. Sein braungebranntes Lächeln vermochte Eisberge zu schmelzen. "Bleiben wir beim Englisch? Die Messgeräte habe ich vorbereitet. Lassen Sie uns beginnen und später reden. Sie haben es gehört: Um sieben rollen die Touristen an - und ihre Dollars und Euros stehen den Ägyptern näher als Archäologen und Physiker."
"Was sucht denn ein Physiker in der Cheops-Pyramide?"
"Echoskopie, Seismographie, Radaranlagen, Mikrowellenerzeuger und Ultraschallmessungen. Wer soll sich darum kümmern, Historiker?" Er lachte brüllend. "Für die Messungen, um die Sie mich gebeten haben, bräuchten die Aktenschnüffler eine Woche. Wir schaffen das in ein paar Minuten. Rechnerunterstützt. Alles für den Dienst am amerikanischen Volk."
"Also doch für eine jüdische Firma."
Jacob grinste, hielt kurz inne und flüsterte ihr ins Ohr: "Sie gelten unter meinen Kollegen als angesehene politische Journalistin, sonst würde ich ihnen nicht helfen. Diese Pyramide zieht Spinner an wie frisches Blut Moskitos. Ihre Idee klingt nicht besser als deren - Theorien." Das letzte Wort spuckte er aus.
Judith ließ ihr charmantes Lächeln aufblitzen. Seine Zweifel teilte sie. "Geben Sie sich nicht mehr Hoffnungen hin als ich. Meine Quelle ist unseriös: das Internet. Die Spur ist so dünn, dass mein Redakteur sie nicht weiterverfolgen wollte. Meinen Jahresurlaub vergeude ich hier."
Er hakte sich unter: "Schön Mylady, sie wecken keine falschen Hoffnungen. So wäre es mir eine Freude, den Morgen mit ihnen zu gestalten."
"Keiner Magie spüre ich nach und keinen Außerirdischen. Ich ermittle nach Menschen, die solchem Unsinn verfallen. Fanatiker. Oder Spinner, wie Sie sagen. Die Große Pyramide dürfte ihr Ziel sein."
Sie wandte sich nach links, grinsend korrigierte er sie. Richtig, die Große Pyramide war nicht die große. Cheops hatte die größte Pyramide bauen lassen, fast hundertfünfzig Meter hoch. Das Ungetüm links davon, zu Ehren seines Sohnes und Nachfolgers, war nur zwei Meter kleiner, stand aber auf einem Plateau und überragte damit seinen älteren Bruder um einige Meter. Der Enkel schließlich hatte es lediglich auf knapp die Hälfte gebracht.
An Tempeln und Gräbern vorbei geleitete Jacob sie durch die Jahrtausende. Zur Linken thronte der Vater des Schreckens, wie die Sphinx im Arabischen genannt wurde. Ein aus einem einzelnen Stück Kalkstein geschlagener Löwe. Ein Löwe fast so lang wie ein Fußballfeld - und mit einem Menschenkopf. Das Schoßhündchen der Pyramiden.
"Darf ich vorstellen: die Große Pyramide des Cheops. Das letzte verbliebene der Sieben Weltwunder. Mit ihren Steinen könnten Sie eine hüfthohe Mauer um Deutschland errichten, ohne nur einen Block spalten zu müssen." Jacob pries sein Steckenpferd an wie eine Skulptur auf einer Vernissage. Bis ins Mittelalter hinein war die Pyramide viertausend Jahre lang das höchste Gebäude der Welt gewesen, hatte Zeit und Erosion getrotzt, auch wenn sie seitdem ein paar Ellen eingebüßt hatte. Eine helle Kalksteinhaut hatte ihr ursprünglich Glanz und Geometrie verliehen, doch war Kalk ein begehrter Baustoff. Moscheen, Krankenhäuser und Gefängnisse im nahen Kairo hatten sich ihrer bedient. Auch der Islam und mancher seiner Herrscher hatten den Pyramiden zugesetzt, huldigten sie doch einem gotteslästerlichen Kult. War es denn unmöglich, in der Pracht dieser Grabkammern Gottes Allmacht und die Genialität seiner Schöpfung auszumachen? Unwirsch schüttelte Judith den Kopf, mochten sich die Fanatiker die Schädel einschlagen, die Pyramiden würden bestehen.
Sie näherte sich der Ostseite des nach den Himmelsrichtungen orientierten Bauwerks, die aufgehende Sonne verlieh der Pyramide Glanz; unordentlich sah sie wegen der herumliegenden Steine aus, nicht schmutzig.
"Die Seiten sind bis auf vier Winkelminuten genau auf den geographischen Nordpol ausgerichtet", erklärte der Physiker. "Wenn ich recht verstanden habe, wollen Sie die Intensität elektromagnetischer Signale messen, die durch die Pyramide dringen?"
Sie nickte. "Als wollte ich aus ihr telefonieren. Der Kalk schluckt die Signale?"
"Allerdings. Kalk, Granit, Basalt. Da werden wir kräftig strahlen und sehr fein messen müssen. Schalten Sie ihr Telefon aus, das stört die Messung. Ich hole mein Zeug."
Judith schritt die zweihundertdreißig Meter der Ostmauer ab. Sie erklomm einige Stufen, jede über einen Meter hoch; niemand störte das. Auf den Knien rutschte sie über die Steine und wischte den Dreck aus den Fugen.
"Auf manchen Steinen finden Sie Reste alter Markierungen aus der Bauzeit", brüllte Jacob hinauf. Einen Handkarren zog er hinter sich her mit einem Sammelsurium an Technik darin, alles notdürftig mit einer Plastikplane abgedeckt.
Judith triumphierte. Ein "י", genau wie im Internetforum beschrieben. "Hier habe ich eine jüngere Markierung. Lackstift!"
Jacob stöhnte. "Da oben wollen Sie messen?" Er zählte. "Auf der siebten Stufe? Wie mystisch!"
Sie schaute traurig hinunter: "Nein, von hier aus soll das Signal gesendet werden, wir messen an der Westwand. Warte, ich helfe dir."
Zwanzig Minuten später hatten sie die siebte Stufe der Westwand erklommen, wo Judith auf eine weitere Markierung gestoßen war. Auf der anderen Seite hatte Jacob ein "mörder EM-Signal" losgeschickt, mitten ins Zentrum der Pyramide, "das dort aber nie ankommen wird!"
"Was ist das für eine Markierung? Kommt mir bekannt vor." In seinem kakifarbenen Dress sah er ordentlicher aus als Judith, deren braune Bluse über und über mit Wüstensand verdreckt war. Im Schatten der Großen Pyramide schlotterte sie ein wenig. "Ich vermute, es ist ein Jod."
Jacob schaute verständnislos. "Das chemische Zeichen für Iod?"
"Nein, der zehnte Buchstabe unseres hebräischen Alphabets."
Ertappt. "Da habe ich wohl im Tanachunterricht Comics gelesen. Ist das Jod von rechts nach links geschrieben?" Jacob räusperte die schwache Pointe weg. "Dann sind es wenigstens keine islamischen Terroristen." Er baute seine Messapparatur auf, verband sie mit dem Rechner und fluchte dabei inbrünstig über den Wüstenstaub.
Judiths Gewissen regte sich. Jacob war ein netter Kerl und tüchtiger Physiker. - Und sie verschwendete seine Zeit mit Hirngespinsten. Spuren von Verrückten an der Cheops-Pyramide zu finden, war leicht; sie zu entlarven lästige Nebenbeschäftigung für hiesige Wissenschaftler. Man wurde nicht krank in einer Pyramide, außer durch Viren, man wurde nicht gesund darin, außer durch die Bewegung; und auch Obst verdarb nicht langsamer in ihrem Inneren - außer aufgrund des Klimas.
Der Physiker schnaubte, fluchte erneut und bearbeitete seine mit einer Folie geschützte Tastatur. "Verrückt! Ich empfange das Signal von der anderen Seite. Praktisch unmöglich in diesem Frequenzbereich."
"Ein Störsignal?", Judith überprüfte ihr Telefon. Ausgeschaltet.
"Nein, eine unverkennbare Modulation habe ich aufgespielt. Eindeutig unser Signal. Erstaunlich!"
"Es dringt ungehindert durch den Stein?"
"Ungehindert? Ein Jumbo-Jet startet an der Ostseite und hier landet ein Papierflieger. Aber ich empfange ihn. Und darüber hinaus ungewöhnliche Variationen entlang der z-Achse. Ich benötige eine Dreieckspeilung."
Genervt blickte Judith gen Himmel. Wissenschaftler! Hartnäckig verbarrikadieren sie sich hinter ihren Fachbegriffen. Sie half ihm, die Messapparatur um dreißig Meter zu verschieben, und bohrte nicht nach.
"Hier empfange ich gar nichts. Wie hast du die Markierung, dieses Jod, gefunden?"
"Ich habe die Pyramidenseite aufgeteilt, im Verhältnis des Goldenen Schnitts."
Hörbar schnappte Jacob nach Luft. "Goldener Schnitt? Geometrischer Firlefanz. Dem fehlt jede physikalische Grundlage! Suchen wir den Schnitt und dein dämliches jüdisches Jod auf der Nordseite. Und wehe, ich empfange dort ein verdammtes Milliwatt." Unbeaufsichtigt ließ er den Karren an der Westseite stehen und trug sein Equipment mit Judiths Hilfe schimpfend und stolpernd über die siebte Quaderreihe Richtung Pyramiden-Eingang.
Der Goldene Schnitt trennt eine Strecke in zwei Teile. Das Verhältnis von kleinem Teil zu großem entspricht dabei dem Verhältnis des großen Teils zur ganzen Strecke. Jede Strecke kann so geteilt werden, auch die Seite einer Pyramide. Der Schnitt liegt nicht weit weg von zwei Dritteln. Gemeinsam suchten sie den fraglichen Bereich der Nordseite ab und diesmal fand Jacob das Jod.
"Ich fasse es nicht", lamentierte er. "Auch hier ein Restsignal."
"Du sprachst von einer Richtungsvarianz?", bohrte sie vorsichtig.
"Das hier ist der Detektor, eigentlich eine Antenne. Wenn ich ihn links und rechts drehe, wird das Signal, das wir von der Ostwand senden, stärker und schwächer, je nachdem, wie genau ich ziele. Ich kann die Antenne aber auch vertikal schwenken, also hoch und runter. Normalerweise wäre das Restsignal am stärksten, würde ich genau waagerecht auf unseren Sender zielen. Aber Pustekuchen! Neige ich sie nach unten, wird das Signal schärfer, als schlüpfe es unter der Pyramide hindurch. Mitten durch den Fels."
Das war für Judith nicht so aufregend wie für den Wissenschaftler. Trotzdem bemerkenswert, die anrüchige Internetquelle hatte recht behalten. "Wohin zeigt denn das Signal, das sich unter der Pyramide durchschlängelt?"
Jacob startete die Zeichenapp auf seinem Rechner, bettete einen Grundriss der Pyramide ein und begann, Vektoren einzufügen und Schnittpunkte zu berechnen. Schließlich warf er ein Kabel in die Wüste, zerrte eine Zeichnung aus seinem Notizblock und malte mit grimmiger Begeisterung darauf herum. "Kennst du den absteigenden Gang zur Grotte im Inneren?"
Judith nickte. Für den Ausflug hatte sie sich kluggelesen.
Er deutete nach rechts, ein Schlüsselbund schaukelte an seinem kleinen Finger. "Dort drüben liegt der amtliche Nebeneingang. Hier der Schlüssel für die Gittertür nach unten, die Aufseher kennen meinen Namen und lassen dich durch. Krabble in Richtung Grotte, ich muss hier noch ein wenig rechnen. Eilen wir uns, in einer halben Stunde laufen hundertfünfzig glückliche Touristen auf, die im Inneren der Pyramide spielen dürfen."
Behände kletterte Judith auf den Einlass zu, auf der Suche … wonach eigentlich? Der historische Zugang lag zehn Meter weiter oben, gut zu erkennen an vier prächtigen, fünfzehn Tonnen schweren Giebelsteinen, war aber unpassierbar. Kurz nach der Bestattung des Pharaos war er mit mehreren gewaltigen Verschluss-Steinen versperrt worden. Kein Grabräuber würde dieses Hindernis überwinden können, also gruben die Plünderer einen eigenen Tunnel. Durch diesen spazierte Judith nun in das Innere der Großen Pyramide.
Zwar war der Tunnel nach einem Kalifen benannt, doch vermutlich hatten ihn Grabräuber ausgehoben - vor tausend Jahren. Dreißig Meter hatten sie ihn waagerecht ins Innere getrieben, bis auf die Höhe des versperrten, absteigenden Tunnels. Der Stollen, schmal, aber freundlich beleuchtet, knickte links ab und traf auf den absteigenden Gang.
Bis auf wenige Kammern war die Pyramide massiv, die Decke trug ein erstaunliches Gewicht und Judith spürte es auf ihren Schultern. Reichlich Steine für wenig Innenraum hatten die Konstrukteure verbaut. Gebückt schob sie sich durch den staubigen Gang, auf dessen Boden ein Brett mit Dielen befestigt war, eine Hühnerleiter. Nach dreißig Metern erblickte sie in der Decke eine Öffnung: ein nach oben führender Stollen. Doch die große Galerie und die Grabstätte oben würde Judith heute nicht zu Gesicht bekommen, ihr Weg führte hinab.
Weitere siebzig Meter kroch die Reporterin hinunter. Die Kalksteine an Wänden und Decke gingen in gewachsenen, behauenen Fels über. Durch die von Jacob erwähnte verschlossene Gittertür erreichte sie die Felsenkammer. Direkt in das Gestein war sie getrieben worden - niemand wusste warum. Fünfhundert Kubikmeter Hohlraum, eindeutig unvollendet. Unentschlossen kraxelte Judith in der Kammer herum, kühl war es, trotzdem klebte ihr die Kleidung an der Haut und sie atmete schneller als notwendig.
"Menschen fürchten die Zeit, doch Zeit fürchtet die Pyramiden. Mein Kollege vermutet, als Reserve sei diese Kammer angelegt worden, um den Pharao zu beherbergen, wäre er vor Fertigstellung der eigentlichen Grabkammer gestorben."
Jacob war hinter ihr hergeklettert. Unbefangen bewegte er sich, aber vorsichtig, als hätte er sich schon öfter den Kopf am Fels gestoßen. Sie war erleichtert, nicht mehr allein zu sein.
"Das Wetter, die Zeit, Politiker und Grabräuber - alle haben der Pyramide zugesetzt. Die Leiche, welche ihrer Obhut übergeben wurde, ist seit Jahrhunderten verschollen und wird es bleiben. Vor hundert Jahren entwickelten sich neue Schädlinge: Abgase, Touristen und Souvenirjäger. Alle wollen hierher: in die Große Pyramide, für zwölf Dollar Eintritt. Die zweitgrößte kostet gerade mal drei und bietet nicht mehr und nicht weniger."
Judith blickte auf die Uhr. Noch wenige Minuten und sie mussten sich der Touristen erwehren. "Hast du den Bereich, der die Funksignale weiterleitet, genauer eingrenzen können?"
Er nickte, wies sie an, ihm zu folgen, und trat zurück auf den Gang. Nach etwa fünfzehn Metern blieb er stehen. "Hier schneidet der wundersame Funkweg diesen Gang. Vielleicht fünf Meter weiter oben oder unten, aber ungefähr hier."
Unschlüssig tasteten sie die Umgebung ab. Jacob hob sogar die Hühnerleiter an und spähte darunter.
"Diese Stelle fühlt sich seltsam an!" Judith schnupperte. "Und sie riecht anders." Sie ertastete im rauen Fels eine Art Belag in Rissen und Fugen.
Der Physiker trat neben sie und setzte ein tüchtiges Stirnrunzeln auf. "Die Oberfläche ist gereinigt worden. Manchmal wollen sich Urlauber hier verewigen. Zum Glück habe ich einen UV-Detektor zur Hand, auch Schwarzlicht genannt." Er grinste. "Wann hast du zuletzt in einer Tel Aviver Diskothek getanzt?"
Kürzlich, dachte Judith. Gemeinsam drehten sie die umliegenden Neonröhren aus der Fassung, es wurde dunkel und bei dem Gedanken an die Steinmassen über sich begann Judiths Herz zu trommeln. Mit wichtiger Miene schaltete Jacob seine Taschenlampe aus und das Schwarzlicht an, wie die Ermittler im Fernsehen.
"Schlecht zu erkennen. Kannst du es lesen? Das Obere kommt mir bekannt vor."
יהוה
נקמה
"Das bekannteste hebräische Wort: יהוה. Wir nennen es Adonai - HERR. Die Buchstaben sind: JHWH, und stehen für Jahwe oder fälschlich Jehova. Die fehlenden Vokale in der Schrift, sehr unpraktisch."
Der Wissenschaftler stocherte mit seinem Kugelschreiber in den Felsspalten herum: "Vermutlich hat jemand die Worte mit Farbe, Öl oder Teer an die Wand gepinselt. Ich frage mal in der Verwaltung nach, ob ein Vorfall dokumentiert ist. Das Wort darunter?"
"Rache."
"Da hast du deine Spinner. Glückwunsch, deiner Story ist soeben Fleisch auf den Knochen gewachsen. Fanatische Juden?"
"Beherbergt Jerusalem wie die Wüste den Sand. Böte sich die Gelegenheit, morgen würden sie dieses prächtige Bauwerk in die Luft sprengen. Die Sache mit der Signalverstärkung habe ich von einer UFO-Seite im Netz."
Jacob, der gerade begonnen hatte, die Neonröhren wieder anzudrehen, verdrehte die Augen und hustete nervös.
Judith musste lächeln: "Ein Forum voller Spinner, aber ein Kommentar war wortgewandt, bedrohlich. Eine Gruppierung, die sich Ayyubs Krieger nennt."
"Ayyubs Krieger? Wie Dumbledores Armee? Nur nicht so nahe an der Wirklichkeit."
"Ayyub, der arabische Name eines Propheten. In unserem Tanach heißt er Hiob. Sie benennen sich nach der arabischen Form, obwohl der Beitrag überquoll vor Hass auf die Palästinenser und den Islam. Auch behaupteten sie, Juden hätten die Pyramiden in Sklavenarbeit erbaut."
Eine alte Mär, die nicht ausstarb. Arbeiter hatten die Pyramide über Jahrzehnte erbaut. Sie waren schlecht behandelt worden und auch gestorben beim Bau, aber freie und vermutlich sogar geschätzte Facharbeiter waren es gewesen, vergleichbar Kumpel unter Tage.
"Vor viereinhalbtausend Jahren, zu Cheops Zeiten, lebte kein einziger Jude auf der Welt, weil Abraham, der Stammvater der Juden und Araber, noch nicht geboren worden war. Keine Juden, keine Christen, keine Muslime."
Judith seufzte: "Was für friedliche Zeiten mögen das gewesen sein. Unsere fanatischen Spinner dürsten jedenfalls nach Rache. Aber an wem - und wofür? Und wie gelangte unser Schmierfink eigentlich durch die Gittertür hier runter?"
Jacob grinste: "Bakschisch. Manche Touristengruppen dürfen in die Felsenkammer. Für eine kleine Zuwendung lässt dich die Pyramidenpolizei hinunter." Er prüfte die Uhrzeit auf seinem Telefon. "Gehen wir zurück, Judith. Das Beste steht dir noch bevor."
Sie stiegen hinauf, verschlossen das Gitter und schlängelten sich durch den Gang des Kalifen. Jacob schritt voran und als die Journalistin ins Freie trat, drehte er sich um und ließ Judiths Blick auf sich wirken, als die Sonne sie umfing. "Der Blick eines Menschen, der nach Stunden in der Pyramide zurück ins Licht tritt, ist wie der Kuss eines Neugeborenen."
Allerdings. Mächtig waren die Pyramiden, uralt und erhaben. Doch sie standen für das Sterben, für die Dunkelheit. Judith atmete auf: "Genug vom Tod für einen Morgen. Und nicht mal eine Mumie haben wir gesehen."
"Du stehst auf einem Friedhof, Mädchen. Mumien liegen hier überall herum. Die edlen werden geklaut oder ausgestellt, mit den gewöhnlichen heizt man Dampf-Lokomotiven, man verarbeitet sie zu Zeitungspapier oder zu wundersamen Tinkturen für Leichtgläubige."
"Einen spannenden Beruf hast du dir gesucht, Jacob Mendel Juliani: Elektromagnetische Strahlen verfolgen, jahrtausendealte Geheimnisse ergründen, Verschwörungen aufdecken …"
"Und manchmal lasse ich Roboter durch schmale Lüftungsschächte von Pyramiden fahren, zur Freude der Archäologen."
Sie stolperte, mit leichter Hand hielt er sie fest, wahrlich gut trainiert der Mann.
"Du brauchst einen Kaffee. Beim ersten Mal verschlägt Cheops Klause jedem den Atem."
Kaffee! Ein himmlischer Gedanke. Und sie mussten herausfinden, wann die Schmiererei im Gang entstanden war. Dünn waren die Hinweise, aber es bestand die Gefahr eines Anschlags. Ihr Redakteur würde Augen machen.
Wir folgten seinen Spuren
Doch Gräber führen nicht in sein Versteck
Selbst Weisen ist er unkündbar
Und schlauen Kreaturen
Kein Monument erschließt uns seinen Zweck«